Der Neumarkt im Spiegel der Architekturkritik

Kaum sind die ersten drei Quartiere am Neumarkt weitgehend fertiggestellt, melden sich wortgewaltig die Vertreter der professionellen Architekturkritik und verreißen – wie zu erwarten war – das ambitionierte Projekt eines Nebeneinanders von Alt und Neu am wohl bedeutendsten Platz Dresdens. Eine Ausnahme bildet dabei die „Welt“, die ihrer bisherigen Linie, Rekonstruktionen verlorener Architekturen wohlwollend zu kommentieren, treu zu bleiben scheint.

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Doch zunächst zu den Verrissen. Architekturkritiker Falk Jaeger monierte jüngst in der „Sächsischen Zeitung“, dass die Neubauten mit rekonstruierten Fassaden „keinen Charakter“ hätten: „Ihnen fehlt die wettergegerbte Haut. Ihnen fehlen die Furchen des Alters im Antlitz, die Unvollkommenheiten und die Spuren des Gebrauchs. Besonders die präzisen Dächer mit den unnatürlich exakten, aber ungenutzten Schornsteinen und millimetergenau gesetzten Gauben können die einstmals lebendige, charmant chaotische Dachlandschaft nicht simulieren.“ Während viele Befürworter einer Wiederherstellung des historischen Platzbildes argumentieren, die Moderne sei bis zum heutigen Tage den Beweis schuldig geblieben, dass sie in der Lage sei, neue und attraktive urbane Zentren auf den Ruinenfeldern der kriegszerstörten Städte zu erschaffen, kehrt Jaeger die Beweisführung um: „Wenn jemand argumentiert, man könne heutzutage mit modernen Mitteln keine Altstadt bauen, so ist am Neumarkt vielmehr der Beweis erbracht, dass man nicht in der Lage ist, dies mit historischen Bauweisen zu tun.“

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Schützenhilfe erhält Jaeger dabei u.a. von Architekturkritiker Ulrich Brinkmann; in Ausgabe 47/06 der „Bauwelt“ moniert Brinkmann v.a. die Diskrepanz zwischen der horizontalen Nutzungsstruktur der Gebäude einerseits und der nach außen suggerierten, vertikal ablesbaren Kleinteiligkeit ihrer Fassaden andererseits. So kritisiert er beispielsweise am Hotel de Saxe, „dass sich die vermeintlichen Barockfassaden als aufgebrezelte Thermohaut über Stahlbeton entpuppen und auch hier fünf Fassaden eine einzige Nutzung, ein Hotel, kaschieren“. Das Quartier an der Frauenkirche kanzelt er als „dekorierten Superblock“ ab, dessen Passageneingänge überbetont würden, während die Zugänge in die einzelnen Häuser sich „bis zur Selbstverleugnung marginalisiert“ zeigten. Zum Quartier II der VVK stellt er nüchtern fest: „Auch dieser Block birst vor Nutzfläche. […] Barockes Dresden? Die Stadt ist genügsam, und den Touristen wird’s als Hintergrund für ein Handyfoto reichen.“ Brinkmanns Fazit: „Dachlandschaften und Bebauungsdichten demonstrieren, wie unwillig sich Nutzungen der Gegenwart in altstädtische Formen gießen lassen. […] “ Was also tun? Falk Jaeger resümiert: „Die Lehre aus dem nur leidlich gelungenen ‚Quartier an der Frauenkirche’ kann nur sein, beim weiteren Bau der Straßenblöcke um den Neumarkt noch mehr architektonische Qualität einzufordern, auf die vermeintlich geschichtsträchtigen, in Wahrheit Geschichte verleugnenden, kulissenhaften Fassadenrepliken zu verzichten und auf kraftvolle, zeitgenössische Ausdrucksformen zu setzen. Die vermögen durchaus, die Wunde im Stadtkörper zu heilen und der Frauenkirche den angemessenen stadträumlichen Rahmen zu verleihen.“ Brinkmann schlägt in dieselbe Kerbe, wobei er – anders als Jaeger– keine Alternative aufzeigt; vielmehr will er den Neumarkt als Lehrstück, wie man es gerade nicht machen sollte, verstanden wissen: „Wer anderswo über Rekonstruktionen nachsinnt: am Dresdner Neumarkt könnte er Heilung finden.“

Ganz anders hingegen „Welt“-Kritiker Eberhard Straub, der bereits im Dezember 2005 die Lust am Rekonstruieren in Dresden und anderswo mit amüsierter Gelassenheit aufnahm: Während Kritiker wie Jaeger und Brinkmann verbissen den scheinbar unauflösbaren Widerspruch zwischen der modernen, großflächigen Nutzung im Innern einerseits und der kleinteiligen, historienverliebten Gestaltung nach außen anderseits anprangern, verweist Straub auf den weltfremden „Originalfetischismus“ und das „sauertöpfische“ Dazwischenreden der Denkmalpflege. Warum die Sache so eng sehen? „Hinter beliebig umgebauten Fassaden wucherte schon im spätantiken Rom ‚das Leben’ mit seinen wechselnden Bedürfnissen“, stellt Straub fest. Es spreche „nichts gegen vollständige Rekonstruktionen oder bloß der Fassaden. Zumal bei vorhandenen Plänen und Bildern der Wiederaufbau verlorener Monumente sehr viel leichter ist als im Rom des 4. oder 5. Jahrhunderts.“ Das Fazit ist für Straub eindeutig: „Her mit den reizenden Arrangements stilistischer Einmaligkeit, die ein international verwöhntes Publikum anzieht. Ob sie neu gebaut sind, frisch renoviert oder umgebaut, spielt kaum noch eine Rolle. Wer Rom, Madrid oder Wien heute besucht, kann nur staunen, wie alte Städte zu aufgeputzten ‚Werbeträgern’ umfunktioniert werden. […] Eine Altstadt muß ‚arbeiten’, Gewinne machen, also voll integriert sein in den Wettbewerb der dynamisierten Weltstädte mit authentischem Flair.“ Ein Hauch von Ironie schwingt auch in Straubs Kommentar mit, doch die Leichtigkeit, mit der er das ansonsten in verbitterten Grabenkämpfen umfochtene Thema behandelt, ist erfrischend und wohltuend.

4 Responses to “Der Neumarkt im Spiegel der Architekturkritik”

  1. silesianospostato
    January 26th, 2007 00:33
    1

    Doppel-LOL - die “Argumente” der Reko-Gegner werden immer abstruser, nimmt diese selbsternannten Intellektuellen eigentlich irgenwer ernst?

    Interessant finde ich vor allem diese Aussage:

    “Diskrepanz zwischen der horizontalen Nutzungsstruktur der Gebäude einerseits und der nach außen suggerierten, vertikal ablesbaren Kleinteiligkeit ihrer Fassaden andererseits”

    Was ist dann mit der Riesenscheibe in der Prager Straße, die ja bei “zeitgenössischen Architekten” wie Braunfels Begeisterungsstürme auslöst? Die ist an der Fassade horizontal und ziemlich grobschlächtig gegliedert (nämlich eher breit als hoch), innen aber kleinteilig und eher vertikal (weil halt die DDR-Unterkünfte recht klein ausgefallen sind). Auch unehrlich? Nein, aber nicht doch - die ist außen genauso häßlich wie innen, also kein Problem. Und außerdem so zeitgemäß…

    Wie dem auch sei, Herr Straub scheint der einzige Rufer in der Wüste zu sein, der sich noch einen letzten Rest guten Geschmack und Urteilsvermögen bewahrt zu haben scheint.

  2. Jochen
    January 26th, 2007 13:38
    2

    @ silesianospostato Was tun mir Deine trefflichen Kommentare gut. Ich meine, laßt sie doch heulen, die Bartetzkos, Jägers und Brinkmänner. Sie kreieren immer neue Wortungeheuer, um einen an historischen Formen orientierten Baustil zu diffamieren und zu beschädigen. Herr Straub hat mit seiner Bezeichnung “Originalfetischismus” genau den Punkt getroffen.Dabei wird meiner Meinung nach die Forderung nach Originalwiederaufbau überwiegend dazu benützt, um ein Projekt von vornherein unmöglich zu machen. Was denken die Herrschaften wohl, wenn durch ernstzunehmende Umfragen bekannt wird, daß 80 % der Befragten sich für einen Wiederaufbau alter Strukturen, auch als sogenannte Kulisse, aussprechen ? Ich denke, sie halten diese Leute alle für dumm, weil sie sich ausschließlich im Besitz der “Genialität” wähnen. Neben Herrn Straub bildet übrigens auch Dr. Guratzsch eine lobens- und liebenswerte Ausnahme bei der Kommentierung aller Wiederaufbauten.

  3. mannschu
    February 1st, 2007 18:50
    3

    @silesianospostato
    Scheinbar hast du nicht ganz genau verstanden was du da zitiert hast.
    Als erstes um das mal klar zu stellen: Ich gebe dem Kritiker RECHT!
    Und nun was er meint: Die schmalen Gebäude geben doch innerhalb des Gebäudeblocks vor eigenständig zu sein und müssten demnach (eher hoch als breit) vertikal gegliedert sein. Nun ist es aber heutzutage so, dass man ganz einfach größere Strukturen braucht, die um wirtschaftlich zu sein, sich horizontal ausbreiten müssen (Treppen, Lifte, Geschosse). Das hat man nun auch so gemacht. Und zu meinem Leidwesen (ich beobachte es immer mit Bedauern) befindet sich der “Kurfürstenhof” nicht nur im Eckhaus Rampische Straße 1, sondern beansprucht auch noch zwei Achsen der Nummer 3. Dies empfinde ich als eigentlich nicht hinnehmbaren Bruch und kann demnach nur eine solche Kulissenschieberei bedauern.
    Jetzt zur Riesenscheibe: Ich empfinde sie wie die meisten nicht als besonders schön, halte sie aber für das Gesamtensemble “Prager Straße” als extrem wichtig. Was du da allerdings versuchst an den Haaren herbeizuzerren verstehe ich nicht wirklich.

  4. silesianospostato
    February 2nd, 2007 23:07
    4

    Ja, stimmt die Scheibe ist schon wichtig - ohne sie wäre die Prager Straße nicht halb so häßlich und müßte daher von mir nicht mehr so weiträumig umgangen werden. Ein wertvolles Zeitdokument halt und daher unbedingt schützenswert, ähnlich wie Schlaghosen oder Polyester-Hemden vom VEB “Plaste und Hemdkrägen” aus Schkopau.

    Abgesehen davon mußte ich leider feststellen, daß sich der Wienerwald in meiner Heimatstadt Esslingen am Neckar über drei originale Fachwerkgebäude erstreckt (ohne die wertvollen trennenden Zwischenwände!), also gewissermaßen nicht nur horizontale Putenschitzel anbietet (eher breit als hoch), sondern sich auch in der Ausgestaltung des Gastraums der Kulissenschieberei schuldig gemacht hat.

    Gerade diese mangelnde Einheit von Innen und Außen, diese Unehrlichkeit und fehlende Transparenz und dieser absolute Bruch (mir fällt gerade nicht ein, womit hier gebrochen wird, aber es klingt immerhin schon mal gut) sind für mich Ausdruck fehlenden Architekturverständnisses, aber wenn die Hendl weiterhin knusprig sind, werde ich ausnahmsweise darüber hinwegsehen.

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