“Um den Neumarkt ist es geschehen”

Prof. Ivan Reimann hat am 21. April im Rahmen einer Tagung der Akademie der Künste einen Vortrag zum Thema Rekonstruktion gehalten und dabei eine Bilanz über das bisherige Baugeschehen am Neumarkt gezogen. Prof. Reimann ist Lehrstuhlinhaber für Öffentliche Bauten an der TU Dresden, Fakultät Architektur.

Besonders interessant erscheinen die Ausführungen Reimanns zum Wesen der modernen Architektur, die per se die Nutzung des historischen Formenkanons ausschließe und daher immer störend wirken müsse: “Eine der Grundprämissen der Moderne ist die der Diskontinuität, des Bruchs mit dem Vorausgegangenen.” Folgt man dieser architekturtheoretischen Argumentationskette, so hatte der Architekt beim nachfolgend abgebildetem Gebäude gar keine andere Wahl als das – für sich betrachtet sehr elegante – Gebäude vis á vis der Frauenkirche mit einem Staffeldach zu versehen, welches den Bau als einen Fremdkörper im Ensemble wirken lassen muss; der Entwurf hätte sonst dem Anspruch, „moderne“ Architektur verkörpern zu wollen, nicht genügt.

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Es erklärt sich auf diesem Wege auch, warum bei Gutachterverfahren – etwa für all jene modern zu gestaltenden Fassaden, die sich am Neumarkt zwischen die rekonstruierten Fassaden einfügen sollen –, zumeist ausgerechnet jene Entwürfe prämiert werden, die für die größte Empörung in der Öffentlichkeit sorgen. Würde sich die prämierte Architektur harmonisch und bruchfrei in die jeweilige Gebäudeabfolge einreihen, könnte sie den architekturtheoretischen Forderungen an ein „modernes“ Gebäude gar nicht genügen. Und weil am Neumarkt schon mehrfach prämierte moderne Architekturen auf Druck der Öffentlichkeit zurückgezogen werden mussten, kann Prof. Reimann auch davon sprechen, dass die Moderne am Neumarkt ein „Opfer“ geworden sei – und zwar genau jener Entwicklungen, die sie geholfen hat in Gang zu setzen.

Sein Fazit im Hinblick auf den Neumarkt formuliert Reimann schließlich wie folgt:

“Die wundersame Auferstehung des Dresdner Neumarktes als eines Nicht-Ortes, als einer Shoppingmall mit Restaurant- und Hotelanschluß, deren Mitte nicht von einem Denkmal, sondern von einem Tiefgaragenausgang markiert wird, die als historische Kulisse bestaunt und konsumiert wird, ist ein Ergebnis der Globalisierung und nicht Dresdner Provinzialismus. Seine Nostalgie wurde hier bloß instrumentalisiert. Der Wideraufbau des Neumarkts ist, so gesehen, ein wahrlich modernes, gar ein futuristisches Projekt. Ein Projekt, das uns aufzeigt – ob es uns gefällt oder nicht – wo die Architekturerwartungen der Öffentlichkeit liegen und wohin sich die Entwicklung der Architektur bewegt. Diese Entwicklung durch bessere, substanzielle Architektur erfolgreich zu bekämpfen, erscheint mir genauso vergeblich, wie mit Austausch von Glühbirnen den Klimawandel besiegen zu wollen.”

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(Das Bild zeigt die im Bau befindlichen Häuser Rampische Str. 16 + 17, die als Rekonstruktionen im weitergehenden Sinne verstanden werden können, also nicht nur im Hinblick auf die Fassaden- sondern auch auf die Grundrissgestaltung, die Materialwahl sowie die Ausbildung von Innenhöfen sowie einer differenzierten Dachlandschaft.)

Reimanns Kernaussagen sind dem Vortrag als Thesensammlung angefügt; wer die Abhandlung im Ganzen nachlesen möchte, kann diese hier als PDF herunterladen. Hier die Thesen im Überblick:

1. “Es ist nicht richtig, dass die Bebauung des Neumarkts unmodern sei. Im Gegenteil: das heutige Erscheinungsbild des Neumarkts ist ein direkter Ausdruck unserer Zeit - so wie sie ist und nicht so, wie sie Architekten haben möchten.”

2. “Das, was wir, mit allen dazugehörigen moralischen Ansprüchen, moderne Architektur nennen, ist am Neumarkt zum Opfer jener gesellschaftlicher Entwicklungen geworden, die sie geholfen hat in Gang zu setzen und die sich der Moderne in anderen Situationen bedienen.”

3. “Moderne Architektursprache, die auf der Ablehnung des historischen Formenkanons basiert, wird dort, wo der Widerspruch nicht angebracht ist, den sie bewusst sucht und in ihr Selbstverständnis integriert hat, immer störend wirken müssen. Das Problem ist nicht lösbar, weil wir über keine andere authentische Sprache verfügen.”

4. “Wo Kontinuität unmöglich geworden ist, könnte nur das Überzeitliche eine gemeinsame Grundlage historischer und moderner Architektur bilden. Das Überzeitliche manifestiert sich in archetypischen Themen und Grundmustern, die einzelnen durch die Zeit ihrer Entstehung bedingten Bauwerken zu Grunde liegen.”

5. “Die Typologie und Charakter neuer Programme und Nutzungen stehen in einem fundamentalen Widerspruch zu historischer Typologie und Parzellierung, sie machen ihre Anwendung unmöglich und verwandeln, sofern man sie nicht direkt zum Ausdruck bringen will, Architektur zu bloßer Verpackung.”

6. “Das heutige Erscheinungsbild des Neumarkts ist das Ergebnis globaler wirtschaftlicher und kultureller Entwicklungen, die durch Architektur nicht umzukehren sind.”

7. “Um den Neumarkt ist es geschehen. Eine etwas andere Melange vorgeblendeter Fassaden wird seinen Charakter nicht wesentlich ändern können. Eine radikal moderne Architektur am Neumarkt würde sein heutiges Erscheinungsbild zerstören, sein Dasein als ein ‘Nicht-Ort’ jedoch nicht ändern können.”

One Response to ““Um den Neumarkt ist es geschehen””

  1. Jochen
    May 2nd, 2007 13:13
    1

    Was ich bisher immer nur vermuten konnte, ist von Prof. Reimann in erstaunlicher und dankenswerter Weise in seinem Vortrag einmal offen bestätigt worden, nämlich die bewußte Provokation und der Bruch mit allem Herkömmlichen durch die Moderne. Vor diesem Hintergrund wird dann auch das Eckhaus Töpferstraße 16 plausibel. So ist auch verständlich, daß es immer nur das Beklagte Schwarz oder Weiß geben kann, da die Moderne jede Vermengung von Stilen ausschließt. Gottseidank wird unter Druck zunehmend auch dem Wunsch eines überwiegenden Teils der Bürger Rechnung getragen, so daß Individualität statt öder Klötzchen hie, Klötzchen da, erreicht wird.

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